von Irmlind Capelle
Meine Damen und Herren,
heute vor 150 Jahren starb Albert Lortzing – nicht hier, in diesem Haus, sondern wenige Häuser von hier entfernt, in seiner Wohnung in der Louisen-Straße „nah beim Theater und dem Thore; man ist in fünf Minuten im Thiergarten (Berlins Stolz).“ Lortzing starb als Kapellmeister des auf Possen spezialisierten Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters, und hätte er sein Leben lang keine andere Stellung gehabt, hätte er nur Lieder, wie die soeben gehörten z. B. aus der Berliner Grisette geschrieben, so würden wir hier heute seiner nicht gedenken. Dann hätten wohl auch nicht die Verantwortlichen des Bundesministeriums für Finanzen freiwillig, d. h. ohne langjährige Bearbeitung durch eine Lobby – die Lortzing übrigens immer noch nicht hat – beschlossen, ihm eine Münze zu widmen (immerhin die drittletzte DM-Münze der BRD) und wäre er wahrscheinlich noch nicht einmal durch eine Sonderbriefmarke geehrt worden, obwohl es davon immerhin ca. 50 Stück pro Jahr gibt.
Doch Albert Lortzing – oder besser gesagt Albert Gustav Lortzing, wie er sich in offiziellen Dokumenten selbst nannte – war mehr: Er war in den Jahren 1835 bis 1850 der bedeutendste deutsche Opernkomponist und zudem der einzige Komponist vor Richard Wagner, der seine Libretti selbst verfaßte. Seine Opern zählen noch heute zu den meistgespielten in Deutschland, besser gesagt in den deutschsprachigen Ländern. In den übrigen Ländern haben sie allerdings nie recht Fuß fassen können.
Daß man sich hier in Berlin, der Geburts- und Sterbestadt Lortzings, entschlossen hat, im Januar 2001 vor allem seinen italienischen Kollegen Giuseppe Verdi, dessen Todestag sich am 27. Januar zum hundersten Mal jährt, zu feiern, setzt das „Pech“ fort, das Lortzing am Ende seines Lebens ständig verfolgt hat. Oder veranstaltet Berlin im Oktober zu Lortzings 200. Geburtstag vielleicht ein Lortzing-Festival?
Lortzing komponierte zwölf abendfüllende Opern, von denen uns heute noch elf erhalten sind. Seine erste Oper, Die beiden Schützen, entstand 1835, als er 34 Jahre alt war. In den Jahren zuvor – und zwar bereits seit seiner Kinderzeit – hatte er schon zahlreiche kleinere Bühnenkompositionen geschrieben, denn er war als Theaterkind aufgewachsen und das Schreiben bloß für die Schublade kam ihm Zeit seines Lebens nicht in den Sinn. Er schrieb für Freunde oder Gesellschaften, denen er sich verbunden fühlte (Freimaurer, Tunnel-Gesellschaft) oder eben für die Theater, an denen er als Schauspieler und Sänger gerade engagiert war. So war es selbstverständlich, daß seine erste Oper, Die beiden Schützen, am Leipziger Stadttheater zur Uraufführung kam, an dem Lortzing seit November 1833 engagiert war. Doch tat sich auch der ihm wohlgesonnene Leipziger Theaterdirektor, Sebald Ringelhardt, sehr schwer, diese erste abendfüllende Oper zur Aufführung anzunehmen: Zwischen Abschluß der Komposition und der Uraufführung lagen mehr als 12 Monate – offensichtlich Bedenkzeit für Ringelhardt, ob er dieses Werk seines beliebtesten Schauspielers wirklich aufführen lassen sollte.
Der erste Versuch Lortzings, eine seiner Opern an der Berliner Hofoper zur Aufführung zu bringen, ist dann wohl kläglich gescheitert, obwohl er glaubte, daß die „faßlichen Melodien bei der Masse vorhandner großer Spektakel Opern, beim Publikum einigen Anklang finden“ könnten. Schon dieser Satz macht deutlich, für wen Lortzing seine Opern komponiert: für das Publikum – vielleicht besonders für das aufgeklärte bürgerliche Publikum des Leipziger Theaters, aber auch für das Hoftheater-Publikum in Berlin, auf jeden Fall aber nicht für die Sänger, zumindest nicht für diejenigen unter ihnen, die sich nur selbst darstellen wollten.
Die Hoftheaterintendanz in Dresden konnte Lortzing allerdings bereits mit seinen beiden Schützen überzeugen und das Publikum dort – wie in Leipzig – war begeistert. Berlin konnte er erst mit dem Zar und Zimmermann gewinnen. Doch zeigt das von der Generalmusikdirektion am 9. August 1838 angefertigte Gutachten deutlich, daß man die Annahme der Oper als Talentprobe ansah. Es heißt darin: „… erscheint es den Unterzeichneten als wünschenswerth daß zu gelegener Zeit ein junger, talentvoller Mann wie Herr A. Lortzing dem hiesigen Publikum als Komponist bekannt werde.“ Lortzing war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt – ein Alter, das Mozart nie erreicht hat; zu gleicher Zeit war der acht Jahre jüngere Felix Mendelssohn längst Dirigent am Gewandhaus in Leipzig und quasi Hofkomponist des preußischen Königs.
Die Generalmusikdirektion in Berlin urteilte: „Die Oper … verdient in Betreff der Musik die lobendste Anerkennung. Letztere ist frisch, lebendig, dramatisch, öfters geistreich und verzüglich gut instrumentirt“ – ein beachtliches Lob für einen Komponisten, der sich überwiegend autodidaktisch ausgebildet hatte.
Mit der begeistert aufgenommenen Erstaufführung des Zar und Zimmermann in Berlin (Lortzing formuliert selbst: „Ernsthaft: der Erfolg meiner Oper hat mich überrascht; ich rechnete auf freundliche Nachsicht meiner lieben Landsleute und in Folge deren auf eine bescheidene, freundliche Aufnahme, aber diesen brillanten Erfolg hätte ich mir nicht träumen lassen“) hatte Lortzing den Durchbruch geschafft. Zar und Zimmermann wurde in den nächsten Jahren auf allen deutschsprachigen Bühnen gespielt und Lortzing verdiente erstmals wirklich Geld, d. h. mehr Geld, als er unbedingt zur Ernährung seiner großen Familie benötigte. In den folgenden Jahren schrieb er jährlich eine Oper und diese wurde selbstverständlich unverzüglich in Leipzig zur Uraufführung gebracht und meist an vielen Theatern nachgespielt – ein wichtiger Aspekt für Lortzings Finanzen, denn das Tantieme-Wesen hat er nur in den letzten Monaten hier am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater kennen gelernt. Bis dahin erhielt er von jedem Theater nur ein einmaliges Honorar für die Partitur, wodurch das Theater oder der Direktor das Recht zur unbeschränkten Aufführung erwarb.
Einen ähnlichen Erfolg wie mit dem Zar und Zimmermann erreichte Lortzing 1843 mit dem Wildschütz, dann auch mit Undine und dem Waffenschmied, doch wurde seine Karriere in dieser Zeit bereits unterbrochen: durch seine Kündigung als Kapellmeister nach einjähriger Tätigkeit in Leizpig 1845 und die anschließende Engagementslosigkeit. Diese konnte zwar 1846 durch das Engagement in Wien noch einmal äußerlich behoben werden konnte, doch innerlich ist Lortzing seit dieser Zeit nicht mehr zur Ruhe gekommen, da für ihn die Atmosphäre in Wien nicht stimmte und er sich finanziell – auch durch den teuren Umzug und die kostspielige Aussteuer für seine Tochter Lina – nicht wieder erholte.
Lortzings tragisches Ende haben wir gerade in der Matinée eindrucksvoll nachvollziehen können.
Der Kritiker Ludwig Rellstab faßte sein Urteil über den Zar und Zimmermann folgendermaßen zusammen: „Genug, das Werk ist, und dies thut in der heutigen Zeit mühseligen convulsivischen Strebens nach Genialität doppelt wohl, durch und durch g e s u n d.“. Gesunde Musik? Gesundes Theater? Wie klingt Musik, die aus „convulsivischem Streben nach Genialität“ komponiert worden ist? Sind das die „Spektakel Opern“, von denen Lortzing sich absetzen möchte? Oder sind das die romantischen Opern, die Richard Wagners frühe Opern mit ihrer z. T. lasziven oder grüblerischen Atmosphäre vorbereiten? In jedem Fall hat Lortzing dieses Urteil „gesund“, das später oft kombiniert wurde mit „deutsch“, vielfach geschadet. Allzu leicht wird gesund mit bieder verwechselt und deutsch mit brav – um von anderen unheilvollen Konnotationen nicht zu reden!
Dabei wird häufig übersehen, wie vielfältig Lortzings elf Opern sind, die als gemeinsamen Nenner die deutsche Sprache und den gesprochenen Dialog haben. Allein die behandelten Sujets reichen von komisch (Zar und Zimmermann, Casanova), über romantisch (Undine), bis ernst (Hans Sachs) oder revolutionär (Regina). Und Lortzing wußte genau, daß jeder Stoff eine andere Musik verlangt. Sein erstes Bemühen um eine vollständig romantische Oper – Undine – kostete ihn viel Zeit. 2 1/2 Jahre komponierte er an dieser Musik – doppelt so lange wie an jeder anderen Oper. Doch der Erfolg gab ihm recht – und wiederum hatte er sich einen neuen musikalischen Ausdrucksbereich autodidaktisch angeeignet. Sicherlich das bedeutendste Experiment unter seinen Opern ist Regina, die einzige Oper, die Lortzing selbst nie gehört hat. Deren musikalisches Vorbild ist die französische grand opéra, verbunden mit der revolutionären Aufbruchsstimmung von 1848. Große Musik zu einem großen Ereignis – auch dieses Experiment ist Lortzing gelungen.
Doch auch die scheinbar deutsch-biederen Themen im Waffenschmied, die so schrecklich brav inszeniert werden können, oder im Wildschütz sind bei genauer Betrachtung voll von Kritik an kleinbürgerlichem Denken. Dies zeigt sich allerdings im Detail und kommt nicht spektakulös, oder voluminös, nummeriös, pekuniös oder famös daher.
Lortzings Opern sind „Konversationsopern“, d. h. „unterhaltende Opern“, die im hohen Grade in Text und Musik mit den Erwartungen des Publikums spielen. Auf Grund dieser zeitlosen Qualität sind die Opern Albert Lortzings bis heute regelmäßig in den Spielplänen deutschsprachiger Theater vertreten und werden dies hoffentlich noch viele Jahre bleiben, hoffentlich auch immer wieder in Inszenierungen, die diesen Unterhaltungswert mit all seiner auch heute nicht veralteten Kritik intelligent herauszuarbeiten verstehen.