Die Tragödie des Jagens

Über den tiefgründigen und trotzdem lebhaften „Wildschütz“ am Gärtnerplatztheater

Ein Einheitsbühnenbild für den Wildschütz scheint zunächst ebenso undenkbar wie für Mozarts Figaro. Zu sehr basieren beide Opern auf konkreten Handlungssituationen, die sich kaum oder zumindest nicht durchgehend abstrahieren lassen. Umso bemerkenswerter also, was Harald B. Thor für den Münchner Wildschütz eingefallen ist: eine fast drehbühnengroße Scheibe, an vier Seilen aufgehängt, und ungemein flexibel einsetzbar. In der Vertikalen ist sie Zielscheibe, Schultafel oder Wandgemälde, in der Horizontalen Tanzfläche für das Brautpaar, Bühne für die Gräfin, Billardtisch für menschliche Billardkugeln, Geldstück für Baculus und Trennlinie gesellschaftlicher Schichten. Daneben kann sie durch Fahrten in die Diagonale auch effektvoll eine Schieflage in den Konventionen visualisieren oder Baculus am Ende seiner Arie wie einen Fahrstuhl in den Himmel seiner Träume erheben. Umrahmt wird diese Scheibe von einem Horizont aus feinen Plastik-Streifen, der sich ganz hervorragend in kräftigen, doch stets geschmackvollen Farben beleuchten lässt (Licht: Wieland Müller-Haslinger). Unterhalb der Scheibe sorgen Drehbühne und Versenkung für allerlei Bewegung. Figuren werden in ihrem Lauf behindert oder befördert, lassen sich treiben oder können nur mühselig mithalten, tauchen auf aus einem nebligen Nichts.

All das führt zu einer wunderbar aufschlussreichen und klaren Abstraktionsebene, die als oftmals makabrer Kommentar die Handlung auf ihre so zahlreichen Abgründe hin abklopft. Tenor dieser Kommentare ist das Jagen und Gejagtwerden in all seinen Facetten, an dem alle Figuren auf die eine oder andere Weise beteiligt sind.

Die Kostüme (Alfred Mayerhofer) stützen die abstrakte Sicht leider nur teilweise. Wenn die Herren im Jägerchor beispielsweise Hörner auf dem Kopf tragen, werden sie einerseits selbst zu Rehböcken, andererseits sind sie die „Gehörnten“, von denen Baculus im Duett mit Gretchen spricht. An anderer Stelle sind die Kostüme dagegen unnötig albern, etwa die Männer-Verkleidungen von Baronin und Nanette.

Für die Personen-Regie von Georg Schmiedleitner ermöglicht dieses Bühnenbild eine große Anzahl von visuell und interpretatorisch sehr starken Momenten, etwa wenn Baculus es beinahe nicht schafft, die Scheibe, auf der die Gräfin thront, zu erklimmen, oder wenn er im Billardquintett schlafenderweise auf der Drehbühne um die Billardtisch-Scheibe herumgedreht wird: ein alter, „abgesetzter“ Mann auf dem Abstellgleis, der nur noch dann ins Sichtfeld gedreht wird, wenn er als Alibi fungieren soll. Diese Bilder sind so eindrücklich und klar, dass beinahe nicht ins Gewicht fällt, dass die Figuren in den längeren Gesangsnummern manchmal etwas zu statisch inszeniert sind. Das ist gerade bei Lortzing verwunderlich, sind doch seine Opern (und gerade der Wildschütz!) Paradebeispiele für ein exzellentes Gespür für theatrales Timing, das man eigentlich direkt in Bewegung auf der Bühne umsetzen kann. Umso positiver wirkt es sich aus, dass die Dialoge sehr gut gearbeitet sind und im Vergleich mit anderen Inszenierungen auch recht ausführlich und vor allem original beibehalten wurden. Zur Aufwertung der Gräfin-Szene wurden zudem einige weitere Sophokles-Texte eingefügt. Die dezenten Striche in den Musiknummern bestätigen ebenfalls den respektvollen Umgang mit Lortzings Werkgestalt.

Diese insgesamt sehr ernsthafte, ehrliche Herangehensweise an die psychologisch brüchig-tragischen Figuren führt in der Summe dazu, dass man das Ganze nur noch schwerlich als „komische Oper“ bezeichnen kann. Nicht nur Gretchen und Baculus sind am Ende unversöhnlich zerstritten, auch die Geschwisterpaare bleiben gegenseitig eher angeekelt zurück – ja sogar Nanette verlässt ihren Jäger, dessen Braut sie laut Aussage der Baronin ist, und macht stattdessen (nun als Frau erkennbar) Gretchen Avancen. So offensichtlich wie hier, war noch nie alles „nicht gut“ am Ende.

An der musikalischen Seite des Abends (musikalische Leitung: Michael Brandstätter) lässt sich ebenfalls kaum etwas beanstanden. Die Tempi sind frisch und zupackend, aber nicht übereilt, die Textverständlichkeit ist groß, nur die dynamische Bandbreite wird leider nicht vollständig genutzt: auf ein wirkliches Piano wartet man vergeblich. Die Sänger*innen-Riege (v.a. der Premierenbesetzung) ist durchweg sehr erfreulich. Nicht nur in musikalischer, auch in schauspielerischer Hinsicht wird deutlich, dass das Gärtnerplatztheater mit seinem Schwerpunkt auf niveauvoller Umsetzung von Unterhaltungstheater ein idealer Ort für die angemessene Interpretation von Lortzings Werken ist. Bleibt zu hoffen, dass wir davon in den nächsten Jahren noch mehr zu sehen bekommen!

Dana Pflüger, besuchte Vorstellungen: 20., 30. Januar, 11. Februar, 9. März 2018