Neustrelitz: „Zar und Zimmermann“ (Golbs)

Die Vorfreude auf einen schönen lortzingschen Theaterabend wurde schon bei der Anreise nach Neustrelitz erheblich gedämpft. Ein schwerer Autounfall verbunden mit einer Komplettsperrung der Unfallstelle brachte für ca. 1 Stunde den freien Verkehr zum erliegen. Nach einer zwanzigminütigen Verspätung und dem Verpassen des halben 1. Aktes begann für mich die Oper erst mit dem Auftritt des Bürgermeisters van Bett.

Wie wohl jetzt erwartet, betritt ein leibesfülliger, etwas aufgedunsener und in die Jahre gekommener Ortschef die Szene, doch weit gefehlt, in Neustrelitz kommt die Saardamer Obrigkeit schlank und rank daher und stolziert mit Polizeieskorte, ständig um Aufmerksamkeit buhlend, in schwarzer Amtsrobe und roter Allongeperücke umher. Ja, auch ohne Leibesfülle ist man vor Dummheit, Ahnungslosigkeit und Arroganz nicht gefeit. Mit gutem bassigen Timbre, auch in den Dialogszenen, weiß Tobias Pfülb alias van Bett, den Bürgermeister in seiner Inkompetenz in den Mittelpunkt zu stellen und frönt dabei seiner angeblichen Beliebtheit. Nachdem sein detektivisches Talent den falschen Peter entdeckt hat, beginnt das ganze Verwirrspiel. Peter Iwanow (Andrés Felipe Orozco), in ständiger Angst als russischer Deserteur entdeckt zu werden, entzieht sich listig in Tenor Buffo Art jeglicher Konfrontationen. Die Eifersüchteleien gegenüber seiner zukünftigen Braut Marie machen ihm fast mehr zu schaffen, als die plötzliche unfreiwillige Zarenwürde. Marie (Anna Maistriau), schlank und niedlich, was man auch in der Stimme hörte, spaßte auch ständig mit ihrem Peter, der in jeder männlichen Gestalt einen Rivalen sah. Peter Michailow (Robert Merwald) verkörperte eine stattliche Zaren-Persönlichkeit und intonierte mit seiner runden Baritonstimme die wehmütigen Arien gut. Das Zepter in der Schiffswerft schwang zweifellos die taffe Witwe Browe. Mit ihrem Slogan „Ich bin eine anständige Frau und mein Mann ist tot!“ lässt sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Die Schiffswerft ist praktikabel mit Bauhölzern und Zimmermannswerkzeugen ausgestattet, die für einen im Bau befindlichen Schiffsrumpf benötigt werden. Die Herren des Opernchores sind an ihren Arbeitsplätzen auffallend korrekt gekleidet in sandbraunen Hosen und blütenweißen Hemden. Frau Browe legt Wert auf Ordnung und Sauberkeit und verteilt wohl auch vor jedem Mittagsmahl an ihre Angestellten eine Riesenserviette. Nachdem van Bett alle zur Personenkontrolle hochgescheucht hat, erscheinen die Schiffsbauer brav mit diesem Latz am Hals und demonstrieren irgendwie eine kollektive Speisung à la Schulhort.

Am Premierenabend waren die Damen und Herren des Opern- und Extrachores in bester Spiel- und Sangeslaune. Der Chordirektor (Gotthard Franke) hat mit Exaktheit und gezielter Stimmführung einen sehr guten Chorklang erreicht. Natürlich auch in der Singschule, in der die Chorschüler ihre besondere Musikalität unter Beweis stellten. Nach kurzer Einsicht in die Notenblätter wurden diese zu Papierbällchen und Papierfliegern umfunktioniert und flogen in Richtung des kunstpreisverdächtigen Texters. Der musikalische Kopf, der Kantor, kannte auch nur 4 Töne und somit war der Chor für die Aufführung der großen Zarenhymne in kürzester Zeit bestens studiert.

Für den Holzschuhtanz engagierte das Haus die Tänzerinnen und Tänzer der Tanzkompanie Neustrelitz, die mit Holzpantinen klappernd auch den englischen Gesandten (Ryszard Kalus), mit seinem auffallend femininen Gehabe, in die Choreografie mit einbezogen. Der russische Gesandte Leford (Mario Thomann) war ein seriöser älterer Herr, wogegen der französische Gesandte (Sangmin Jeon) sehr charmant in seiner Arie Blumen an die flandrischen Mädchen verteilte. Obwohl einige hauseigene Solisten aus fernen Ländern stammten u. a. aus Kolumbien, Belgien, Polen und Südkorea, war die Textverständlichkeit im Dialog und Gesang bei allen Mitwirkenden sehr gut.

Das Orchester spielte unter dem Dirigat von Markus Baisch einen flotten und beschwingten Lortzing. Die Regisseurin Birgit Kronshage stellte mit Hilfe des spielfreudigen Ensembles eine eher konservative ohne große Aufreger, doch in der Gesamtheit, sehenswerte Inszenierung auf die Bühne.

Petra Golbs, besuchte Vorstellung: Premiere am 7. Mai 2016