Nur eine „farbenprächtige, wohldurchdachte Intrigenhandlung“[1]

Die Musikalische Komödie in Leipzig spielt „Casanova“

Wie schwer es ist, den Casanova adäquat zu besetzen, lässt sich an den Aufführungen dieser Oper in den letzten Jahrzehnten sehr gut ablesen: 2004 Adrian Cave und insbesondere Alexander Nikolic in der Hamburger Kammeroper, die den (freilich nur sehr kleinen) umgebauten Kinosaal mit viel Verve gefüllt haben, ohne dafür große stimmliche Durchschlagskraft besitzen zu müssen; dann 2010 der im Prinzip sehr vielversprechende, jedoch chronisch indisponierte Christian Zenker in Klagenfurt und nun Radoslaw Rydlewski mit seinem viel zu dünnen und in höheren Lagen immer dünner werdenden Stimmchen in der Musikalischen Komödie Leipzig am 9. Juni 2018.

Doch diese betrübliche Aufzählung wäre als Einleitung schlecht gewählt, würde sie nicht schon für einen Tag später, den 10. Juni, einen Freudentusch vermelden könnte, der da lautet: Adam Sanchez! Ein Bravo nach Leipzig für diesen tollen Neuzugang! Vollkommen makellos, mit großer Gewandtheit und Eleganz schüttelte Sanchez seinen Casanova stimmlich aus dem Kragen („Ärmel“ passt hier wohl nicht), ohne dabei die von Lortzing insistierend geforderte „Leichtigkeit im Spiel“ zu vernachlässigen. Zum ersten Mal waren die Ensembles musikalisch vollständig, mitsamt der meist führenden Tenorstimme, zu erleben! Ebenso glückliche Umstände wünscht man auch einer anderen Oper von Lortzing: Es harrt noch der Tag seiner Erfüllung, an dem ein Theater es schafft, den Richard aus der Regina mit jemandem zu besetzen, der dieser Partie stimmlich gewachsen ist.

Von den restlichen Sängern müssen insbesondere Hinrich Horn als Gambetto und Michael Raschle als Busoni hervorgehoben werden, die im Unterschied zu Milko Milev als Rocco stimmlich vollkommen überzeugend waren. An Lilli Wünsche (Rosaura), Magdalena Hinterdobler (Bettina) und Jeffery Krueger (Peppo) war nichts zu beanstanden, ohne dass sie besonders aufgefallen wären. Sehr erfreulich und ganz und gar nicht selbstverständlich war die sehr gute Aussprache des gesamten Ensembles, sodass man beinahe jedes Wort verstehen konnte.

Nun aber zu der leider weniger schönen szenischen Seite der Aufführung. Da ist zunächst die Fassung – die man beinahe verliert, wenn man erleben muss, dass in dieser Leipziger Fassung die große Auftrittsarie des Casanova („Frisch durch die Welt“) vollkommen gestrichen wurde und an ihrer Stelle unpassenderweise das Freiheits-„Lied“ erklingt. Warum, so fragt man sich, sollte Casanova bei seinem Auftritt die Freiheit preisen, wenn er noch nicht einmal ahnt, dass ihm ein Gefängnisaufenthalt blüht? Wie viel passender ist dieses Lied an der von Lortzing vorgesehenen Stelle im II. Akt (Gefängnis) angesiedelt, wo Casanovas Blick in die Freiheit durch Gitterstäbe getrübt wird. Nicht zu schweigen davon, dass diese Kürzung (jenseits der Tatsache einer Verkürzung der Spieldauer) keinerlei dramaturgische Vorteile hat. Ob nun Stefan Klingele (Musikalische Leitung), Cusch Jung (Regie) oder Nele Winter (Dramaturgie) dafür verantwortlich ist, lässt sich von außen nicht erkennen, sicher ist nur, dass dieses Produktionsteam auch noch anderes am Stecken hat. Wie kann es beispielsweise möglich sein, dass das musikalisch sehr markante Rocco-Motiv übersehen wurde? Kein einziges Mal humpelt Rocco während des Motivs oder es wird sonst szenisch sichtbar gemacht. Zwei Begründungen hierfür sind denkbar:

  1. Die Regie befindet sich auf einem theoretisch derart elaborierten Level, dass sie es nicht für nötig hält, musikalisch bereits vorhandene Informationen szenisch zu verdoppeln.
  2. Das Regieteam hat sich in der Vorbereitung nur oberflächlich mit der Musik auseinandergesetzt und zudem auch noch keinerlei Literatur zu Rate gezogen (in der die beiden zentralen Leitmotive, das Freiheits- und das Rocco-Motiv mehr als einmal beschrieben werden)[2], sodass die Existenz und Bedeutung dieses Motivs tatsächlich nicht bemerkt wurde.

Welche dieser Varianten wahrscheinlicher ist, kann man sich denken. Die zweite von beiden erhält zudem deutliche Waffenhilfe durch die Striche im II. Akt, die den Griechischen Freiheitskampf („Schlacht von Tripolis“) bis auf einen nunmehr unverständlichen Satz im Finale II („Ist das Bild noch nicht vollendet?“ – „Morgen früh wird es beendet.“) aus der Handlung eliminieren. Es ist natürlich richtig, dass das heutige Publikum den zu Lortzings Zeiten brisanten Verweis auf die damals nur 15 Jahre zurückliegende Griechische Revolution nicht mehr ohne Weiteres verstehen kann. Eine heute übliche Verfahrensweise ist es daher, solche historischen Anspielungen auf aktuelle politische Gegebenheiten zu übertragen, damit die heutige Aufführung auf das Publikum genauso wirken kann wie die Aufführung von damals auf das damalige Publikum. Doch auch diese Form von ‚Kompensation‘ der politischen Dimension sucht man vergeblich.

Es ist dann auch nicht mehr weiter verwunderlich, dass die eigentlich vielschichtige und widersprüchliche Figur des Rocco in dieser Inszenierung zu einem banal-lustigen Trinker verkommt und die Ausstattung (Beate Zoff) – ebenso wie die ganze szenische Umsetzung – historisierend, etwas überzeichnet, hübsch bunt, aber oberflächlich ist. Allein die präzise Personenführung in den Dialogen sticht positiv hervor. Es handelt sich insgesamt um genau die Art von betulicher, harmloser (und anscheinend sehr hartnäckiger) Lortzing-Interpretation, deren Überwindung die Albert-Lortzing-Gesellschaft so gerne sehen würde.

Dana Pflüger, besuchte Vorstellungen: 9., 10. Juni und 16. September 2018

[1] So Jürgen Schläder 1986 über den Casanova, vgl.: Die Dramaturgie in Lortzings komischen Opern. In: Albert Gier (Hg.): Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung. 1986, Heidelberg: Winter (Studia Romanica, 63), S. 249-275: 274.

[2] Vgl. zur politischen Funktion der beiden Motive vgl. Dana Pflüger, Musik und Handlung. Die Funktionen der Musik in Oper, Film und Schauspiel mit einer exemplarischen Betrachtung von Albert Lortzings Werken. 2018, Berlin u.a.: Peter Lang (Perspektiven der Opernforschung, 26), S. 202-216.